Der US-Filmregisseur Wes Anderson ist für seine markante Bildsprache bekannt. Seine Fans eifern ihm nach und erstellen Bilder im Stil seiner Filme. Wir sprechen mit Marjorie Becker über angebotene Reisen, ein Instagram-Profil und ein zweites Buch.

Marjorie Becker im Interview: Symmetrie in Farbe
Normalerweise zeigen wir an dieser Stelle Fotos einer Fotografin oder eines Fotografen – seien es Naturaufnahmen, Architekturbilder, Straßenszenen oder Porträts. Diesmal ist alles anders.
Wir sind auf das Buch Accidentally Wes Anderson Adventures gestoßen – einen Bildband, der Fotos von Menschen aus aller Welt vereint, die Bilder erstellen, die aussehen, als seien sie einem Film des Regisseurs Wes Anderson entsprungen. Dazu stand uns die Fotografin Marjorie Becker Rede und Antwort, die am Buch mitgearbeitet und selbst eine Vielzahl an Fotos beigesteuert hat.
Accidentally Wes Anderson - Adventures: Includes an Exclusive Foreword by Wes Anderson
DigitalPHOTO: Frau Becker, was genau ist Ihre Rolle bei Accidentally Wes Anderson?
Marjorie Becker: Vielleicht muss man das Projekt erst einmal einordnen, um meine Aufgaben besser zu verstehen. 2017 startete Wally Koval ein Instagram-Profil, auf dem Bilder geteilt wurden, die der Ästhetik des Regisseurs Wes Anderson nahekommen.
Dieser Account wuchs rasant und zählt inzwischen fast zwei Millionen Fans aus aller Welt – Menschen, die dem typischen Stil Andersons nacheifern: pastellfarbene Landschaften, nostalgische Architektur, strenge, symmetrische Fotos mit perfekt ausbalancierten Kompositionen. Seit einiger Zeit werden auch Reisen angeboten – zu Orten, die auch Wes Anderson gefallen würden. Und hier kommt nun meine Rolle ins Spiel.
Was sind Ihre Aufgaben?

Meistens bin ich mit Wally und inzwischen auch mit seiner Frau Amanda Koval sowie dem Team auf Reisen. Wir werden an verschiedene Orte geschickt, oft in Zusammenarbeit mit einem Kunden oder Sponsor, um genau diese Art von Bildern zu erstellen.
Dabei steckt viel Recherche dahinter – nicht nur zu unserem eigentlichen Ziel, sondern auch dazu, ob es in der Umgebung weitere Orte gibt, die für die Fans interessant sein könnten.
Auch Sie erstellen Fotos, richtig?
Richtig! Meine Hauptaufgabe liegt in der Fotografie und Bildproduktion – also in Aufnahmen, die später im Buch, auf der Internetseite oder sogar in Ausstellungen zu sehen sind.
Wenn dann noch Nachbearbeitungen nötig sind – etwa wenn ein Bild fast perfekt ist, aber noch den letzten Schliff braucht, wie einen kreativen Beschnitt –, dann verlassen sich Wally und Amanda auf mein Auge.
Wie sind Sie Teil des Teams geworden?

2020 arbeiteten Wally und Amanda an ihrem ersten Buch. Sie suchten jemanden, der die Bilder für den Druck aufbereitet. Ein Bekannter stellte den Kontakt zwischen uns her. Ich arbeitete zu der Zeit als Fotografin in New York City, hatte aber nicht allzu viele andere Aufträge – also war das eine gute Gelegenheit für mich.
Irgendwann kam das Angebot, mit Wally und Amanda auf Reisen zu gehen und Inhalte zu erstellen. Die beiden sind tolle Kuratoren, aber keine Fotografen – also haben sie mich einfach mitgenommen. Seitdem sind wir immer wieder gemeinsam losgezogen.
Eine Frage, die wir uns gestellt haben, ist: Was ist das Wes-Anderson-Element oder die Zutat, die die Menschen inspiriert?
Ich glaube nicht, dass es nur eine einzige Zutat gibt, die Wes Andersons Stil ausmacht. Wie schon erwähnt, finden sich in seinen Filmen symmetrische Bildkompositionen oder eine bestimmte Farbpalette. Aber ich finde, es wäre nicht ganz fair seine Werke – oder auch die Accidentally-Wes-Anderson-Bilder – nur darauf zu reduzieren. Es steckt noch viel mehr dahinter.
Können Sie das konkretisieren?

Im besten Fall erzählt das Bild eine Geschichte oder hat etwas Skurriles und Verspieltes an sich. Andersons Filme sind nicht nur von der Handlung geprägt, sondern auch von der visuellen Welt, die er erschafft – mit seinen Sets, der Architektur, der Beleuchtung, den Farben, ja sogar der Art, wie er seine Szenen einrahmt: mal sind es große, offene Räume, mal kleine, intime Kulissen wie das Innere eines Aufzugs.
Warum fasziniert Accidentally Wes Anderson so viele Menschen?
Ich glaube, es ist mehr als nur eine Fan-Seite. Sie weckt ein Gefühl von Abenteuer, Verspieltheit und Fernweh. Was mich besonders daran fasziniert, ist die Tatsache, dass diese Orte tatsächlich existieren – und dennoch wirken sie in ihrer Inszenierung oft filmisch oder wie aus einem Traum.
Dass jeder eigene Bilder oder Geschichten einreichen kann, macht AWA (kurz für Accidentally Wes Anderson, Anm. d. Red.) nicht nur zugänglich, sondern schafft auch eine Gemeinschaft. Ein Aspekt, den ich besonders liebe, sind die Kommentare unter den Bildern auf Instagram.
Ich selbst bin keine große Schreiberin, aber die Art, wie die Gemeinschaft mit AWA und untereinander interagiert, ist unglaublich unterhaltsam und charmant. AWA hat eine Kultur geschaffen, die Freude verbreitet und die Menschen gegenseitig inspiriert.
Wie finden Sie auf Ihren Reisen das Außergewöhnliche im Alltäglichen?

Wenn wir unterwegs sind, haben wir einen durchgetakteten Zeitplan. Wir wissen im Voraus ungefähr, was wir fotografieren möchten. Durch die Recherche bekomme ich eine Vorstellung davon, was mich erwartet.
Doch dann kommen unvorhersehbare Faktoren ins Spiel – wie das Wetter, Menschenmengen oder unerwartete Einschränkungen. In solchen Momenten muss ich kreativ überlegen, wie ich das Motiv dennoch so einfangen kann, dass es zur AWA-Ästhetik passt.
Das heißt, Sie suchen gezielt nach Motiven, die es ins Buch oder auf den Instagram-Kanal schaffen sollen?

Ich suche nach Motiven, die zum AWA-Kosmos passen – dazu plane ich viel im Voraus. Andererseits entstehen viele meiner Lieblingsbilder genau zwischen den geplanten Aufnahmen, zum Beispiel das Riesenrad in Angoulême in Frankreich.
Oder es ergeben sich Situationen, auf die ich mich nicht wirklich vorbereiten kann. In der Schweiz sollten wir Züge und dergleichen fotografieren. Einmal erhielten wir extra eine Genehmigung, um im Führerstand einer Zahnradbahn mitzufahren.
Während wir warteten, dass die Fahrgäste einsteigen, half der Zugführer draußen den Passagieren. In diesem Moment habe ich schnell eine Aufnahme des Steuerpults mit all den kleinen Hebeln, Knöpfen und Anzeigen erstellt – eines meiner absoluten Lieblingsbilder, das direkt nach dem Vorwort im Buch zu sehen ist.
Wie kann man sich Ihre Reisen vorstellen?
Zunächst einmal machen sie unglaublich viel Spaß! Das Team hat eine sehr unbeschwerte Herangehensweise. Wir geraten sofort in Begeisterung, wenn wir etwas Historisches oder Kurioses entdecken. Wenn wir unterwegs einen alten Briefkasten entdecken, freuen wir uns wie kleine Kinder – und diese Energie ist wirklich ansteckend.
Wie kann man bei dem Projekt mitmachen?

Jede und jeder kann Bilder einreichen – man muss kein professioneller Fotograf sein, um teilzunehmen. Es geht einfach um eine Gruppe von Menschen, die Schönheit in der Welt sehen.
Wes Andersons Ästhetik wird meiner Meinung nach immer bekannter und beliebter. Wenn man im echten Leben auf einen Ort trifft, der diese Wirkung hat, ist das ein tolles Erlebnis. Ich denke, diese positive Energie steckt viele an.
Haben Sie in all der Zeit Wes Anderson eigentlich einmal persönlich getroffen?
Leider noch nicht – es ist aber ein absoluter Traum von mir. Falls es nicht offensichtlich ist: Ich bin ein riesiger Wes-Anderson-Fan – schon lange, bevor ich zu Accidentally Wes Anderson kam. Ich habe mich Anfang der 2000er in seine Arbeit verliebt, nachdem ich Die Royal Tenenbaums gesehen habe.
Es ist bis heute mein Lieblingsfilm. Doch auch wenn ich ihn noch nicht persönlich getroffen habe, bewundere ich seine Arbeit aus der Ferne – und seine neuen Filme bedeuten mir mittlerweile noch mehr als früher. Er inspiriert mich heute auf eine ganz neue Weise, weil ich nicht nur seine Ästhetik nachvollziehen kann, sondern auch versuche, sie zu verinnerlichen und in meine eigene Arbeit einfließen zu lassen.
Das Buch ist ohne direkten Kontakt zu Wes Anderson entstanden. Und doch hat er zum Vorwort beigetragen, richtig?
Ja, schließlich trägt das Projekt seinen Namen, also hat er das letzte Wort und gibt tatsächlich auch die finale Freigabe. Wally und Amanda haben immer betont, wie glücklich sie darüber sind, dass Anderson wirklich mag, was sie mit diesem tollen Projekt geschaffen haben – das bedeutet ihnen sehr viel.
Ich hoffe, dass wir Wes Anderson eines Tages persönlich treffen werden, aber bis dahin ist es eher eine Art Brieffreundschaft.

Marjorie Becker fotografiert hauptsächlich Musik- und Live- Events. Im Jahr 2020 begann sie die Zusammenarbeit mit Wally und Amanda Koval an deren Buch Accidentally Wes Anderson. Aus diesem Projekt entwickelte sich ihre Rolle als leitende Fotografin von AWA, in der sie rund um die Welt fotografiert. Im neuen Buch sind über 60 ihrer Fotos zu sehen.